GLÜCKSRITTER

GLÜCKSRITTER, eine Par­tizipa­tive Online Per­for­mance für The­ater Freiburg, Juni 2020.

Konzept und Regie: Uwe Mengel

Mit: Angela Falken­han, Hen­ry Mey­er, Lau­ra Angeli­na Pala­cios, Moritz Peschke.

Pro­duk­tion­sleitung, tech­nis­che Real­isierung, Video: Bas­t­ian Kabuth

Rezen­sion aus der “Badis­chen Zeitung”

„Ver­mu­tun­gen über Max­i­m­il­ian L.“

Mit Uwe Men­gels inter­ak­tiv­er Online-Per­for­mance „Glück­srit­ter“ startet das The­ater Freiburg in seine Rest­spielzeit. Der, um den sich alles dreht, ist die Leer­stelle dieser Dar­bi­etung. Man sieht sein Gesicht auf dem Beset­zungszettel: der­Schaus­piel­er Lukas T. Sper­ber hat es einem Toten geliehen. Max­i­m­il­ian Lütke, Invest­ment­banker, wurde Opfer einesVer­brechens. Die Täterin ist gefasst und geständig. Es geht hier also nicht um die Aufk­lärung ein­er Tat. So viel muss man wis­sen, um an der inter­ak­tiv­en Online-Auf­führung „Glück­srit­ter“ von Uwe Men­gel teilzunehmen: nicht im Freiburg­er The­ater notabene, son­dern zu Hause an einem inter­net­fähi­gen Gerät. Jet­zt, zum Auf­takt der Rest­spielzeit an den städtis­chen Büh­nen, die die Sai­son nicht – wie viele andere Häuser – vorzeit­ig been­det haben, präsen­tiert Men­gel sein For­mat nach mehrwöchi­gen Einzel­proben mit den beteiligten vier Schaus­piel­ern im virtuellen Raum. Was wussten sie voneinan­der? Das funk­tion­iert erstaunlich gut. Wer sich zu einem Auf­führung­ster­min anmeldet, bekommt eine Zahl zugeteilt. Damit darf er gemein­sam mit zwei oder drei weit­eren von max­i­mal 16 an der Per­for­mance Beteiligten – Zuschauer ist hiere­in­fach nicht das richtige Wort – die virtuellen Räume auf­suchen, in denen die Darsteller darauf warten, zum Fall befragt zu wer­den. Angela Falken­han, Lau­ra Angeli­na Pala­cios, Hen­ry Mey­er und Moritz Peschke haben ihre Fig­uren in Zusam­me­nar­beit mit dem Regis­seur erar­beit­e­tund sich so anver­wan­delt, dass sie auf alle Fra­gen vor­bere­it­et sind. Sie müssen stim­mig impro­visieren – und das ver­langt eine hohe Konzentration.Auch auf der anderen Seite des Spiels ist man gefordert. Es kommt auf jeden einzel­nen an, damit die Per­for­mance gelingt. Denn nur wer fragt, bekommt auch Antworten. Mit Mit­denken und dem sich Ein­fühlen in die Fig­uren befördert man den Ver­such, ein zunächst unfass­bares­Geschehen – wie es jede Tötung eines­Men­schen ist – zu ergrün­den und vielle­icht annäh­ernd zu erk­lären. Es ist die Inter­ak­tion, die „Glück­srit­ter“ von allen anderen zur Zeit beliebten Stream­ing-Ange­boten unter­schei­det und zu einem Exper­i­ment macht – das bei jed­er­Auf­führung, abhängig von ihren Teil­nehmern, anders ver­laufen wird. So viel ist zu sagen und so viel ste­ht fest: Dieser Max­i­m­il­ian Lütke, bis zumAus­bruch der Coro­na-Pan­demie offen­bar einGlück­skind des Schick­sals und des Finanzkap­i­tal­is­mus, hat­te mehrere par­al­lel­laufende intime oder zumin­d­est inten­sive­Beziehun­gen: zu sein­er Ehe­frau Marie Berg, ein­er Ärztin (Angela Falken­han), zu Jolan­da Fehr, ein­er in Berlin als Pflegekraft arbei­t­en­den und leben­den Schweiz­erin (Lau­ra Angeli­na Pala­cios) und zu Chris­t­ian Bischof, einem Fitnesstrainer(Moritz Peschke), dem er 100 000 Euroals zinslosen Kred­it für die Ein­rich­tung eines eige­nen Fit­nessstu­dios gegeben hat­te. Was diese drei Fig­uren voneinan­der wussten und wie viel ihnen der Getötete jew­eils aus seinem Leben erzählt hat­te: Dies her­auszufind­en, ist Ziel von „Glück­srit­ter“. Es geht um das Psy­chogramm eines Opfers – und, je nach Inter­esse, auch um das Psy­chogramm ein­er Täterin, die man ohne weit­eres eine Mörderin nicht wird nen­nen kön­nen. Und es geht um die Wochen des bundes‑, europa‑, weltweit ver­hängten Lock-downs. Was geschah in dieser für alle schwieri­gen Zeit mit dem erfol­gsver­wöh­n­ten Banker Max­i­m­il­ian Lütke? Hat er sich ver­spekuliert? War er vielle­icht sog­ar an einem schnell aufge­flo­ge­nen Mask­endeal ohne Masken, aber mit max­i­malem Gewinn beteiligt, in den die Lan­desregierung von Nor­drhein-West­falen involviert war? Alle, die in diesen Wochen Kon­takt zu ihm hat­ten, sind sich einig: Der Mann hat­te sich so stark verändert,dass er kaum wiederzuerken­nen war. Er, der als Banker immer großen Wert auf sein Ausse­hen gelegt hat­te, ließ sich gehen, ver­lot­terte ger­adezu. Sein Vater Ulrich Ren­ner (Hen­ry Mey­er) war ger­adezu erschrock­en, als ihn der Sohn noch am Abend vor sein­er Ermor­dung besuchte. Fahrig sei er gewe­sen, kaum ansprech­bar. Dabei habe er gedacht, der Sohn – den er als Geschieden­er erst drei Jahre vorher über­haupt ken­nen­gel­ernt hat­te – wolle ihm zum Geburt­stag grat­ulieren. Im Lauf der jew­eils eine Vier­tel­stunde und dann noch ein­mal zehn Minuten dauern­den Fragerun­den verdicht­en sich dieV­er­mu­tun­gen über Max­i­m­il­ian L. Immer mehr – doch zu ein­er endgülti­gen Klärung seines Schick­sals wird es wohl nicht kom­men. Jed­er Men­sch bleibt dem anderen ein Rät­sel: Auch das kön­nte die Botschaft der intel­li­gen­ten und anre­gen­den­Ver­such­sanord­nung sein.

Bet­ti­na Schulte (Badis­che Zeitung)

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